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Ausbildung zum Aktivdienst bei der Schweizer Armee um 1942 | |
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Ein Bericht von Arthur Müller | |
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Vorwort | |
Verstummt ist das vielhunderttausendpferdige Gebrumme der über Europa kreuzenden Bombergeschwader. Verstummt sind auch die Sirenen. Ebenso verstummt ist das Fluchen des Bürgers, der unzählige Male des Nachts aus dem guten Schlaf geweckt wurde, der aber ebenso prompt alle Heiligen vom Himmel fluchte, wenn er ein fremdes Flugzeug am Himmel hörte, bevor es Alarm gab. An einem regnerischen Sonntag habe ich die im Aktivdienst als Späher auf unförmige Papierfetzen gekritzelten Erlebnisse und Notizen wieder durchgegangen. Hier versuche ich nun diese Sachen so gut es geht einigermassen geordnet aufzuzeichnen. |
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Einrücken zum Aktivdienst | |
Im Sommer 1942 erhalte ich, der noch keinen Tag Dienst geleistet habe, die bekannte und gefürchtete Karte. Sie haben einzurücken, dann und dann zu einem 10-tägigen Einführungskurs, anschliessend Aktivdienst. Weiter war nichts vermerkt, auch nicht als was sie mich Staatskrüppel (dienstuntauglich) zu gebrauchen gedenken. Nicht ohne Herzklopfen rücke ich am besagten Tag ein, wurde aber gleichen Tags wegen Art. so und so wieder heim geschickt. Für den Flieger-Beobachter und Meldedienst sind wir vorgesehen gewesen. Dunkel erinnere ich mich eine solche Truppe, anlässlich einer Fahrradtour mit meiner Frau, auf der Furka gesehen zu haben. |
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Einige Wochen später meldete ich mich freiwillig zu dieser Truppe und erhalte auch prompt auf den 1. Oktober das Aufgebot. Etwas ruhiger rücke ich diesmal ein, weiss nun wenigstens für was wir ausersehen sind. Bei der Ankunft wird durch ein Witzbold, die bekannte Garnisonsstadt *, Dachau getauft, und so will ich den Ort in meinen Aufzeichnungen auch nennen. Hier also in Dachau rücken am 1. Oktober 1942 etwa 120 Staatskrüppel, oder wie ein anderer meinte, der Abschaum der Menschheit mit Rucksäcken und Koffern bewaffnet ein. Die einen hinkend, sogar am Stock gehend, andere mit hoher Achsel oder sonstigen Verwachsungen, die anderen sonst mit einem Übel behaftet streben wir nach dem Bahnhof-Restaurant zu. Es ist erst 8.30 Uhr, wir sind erst auf 10 Uhr eingeladen. Kaum haben wir uns niedergelassen kommt da dein Korporal und meldet wir müssten schon um 9 Uhr antreten, damit heute noch etwas geleistet werden könne. Nur langsam und widerwillig schleichen wir zur Kaserne hinüber. Pressieren, pressieren, tönt es über den Kasernenhof, dafür dürfen wir dann eine ganze Stunde herum stehend warten. Dann heisst es antreten zum ersten Appell. Da stehen nun das Schuldenbäuerlein neben dem Versicherungsinspektor, der 19-jährige Lehrling neben dem Ingenieur mit grauen Haaren. Der Diensthabende Offizier erklärt uns kurz, für was wir hier seien, dass wir angestrengt arbeiten müssten um in 10 Tagen einsatzbereit zu sein. |
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* sehr wahrscheinlich handelt es sich um die Kaserne Windisch, AG. | |
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Zuerst werden wir von einem Arzt untersucht, Gebrechen zählen nicht. Im Tempo eines laufenden Bandes werden alle 120 Mann abgefertigt, selbst der Mann mit dem kaputten Knie wird auf zusehen hin behalten. Noch vor dem Mittagessen steckt man uns in die Uniform, das Ehrenkleid das bei geschwollenen Reden so stark betont wird. Ich hatte allerdings eine andere Vorstellung von einem Ehrenkleid, nicht Hosenstösse wie nasse und unzählige Male geflickte Feuerwehrschläuche, ausgefranste Rockärmel mit fadenscheinigen Ellbogenstellen, die den Träger desselben dem Verdacht des Dauerjassens aussetzt. Wir sind eben nur HD's (Hilfsdienst), ausgeschrieben "Halb Dubel" von Dachau, später wurde dieser Ausdruck abgeändert in "Helden Division" | |
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Das erste Mittagessen schmeckte uns gut, nur will uns der militärische Geist nicht in den Kopf. Das verdammte pressieren kommt auch beim Mittagessen nicht zum Verstummen. Nach dem Essen soll nun unsere eigentliche Arbeit beginnen. Um halb zwei stehen alle in Reih und Glied, der Dinge harrend die da kommen sollen. Mit undefinierbaren Geräten, Gestellen und Tabletts kommt die Fassmannschaft vom Zeughaus zurück. Achtung Steht! schreckt uns aus den Träumereien, jeder war seinen eigenen Gedanken nachgegangen. |
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Der Kommandant des Kurses, Major X, gibt uns nochmals bekannt, für was wir von unseren Familien und von unseren Arbeitsplätzen weggeholt worden sind. Des breiten und langen wird uns die grosse Aufgabe und Verantwortung, die uns das draussen bevorsteht geschildert. Der vortragende Offizier meint zum Schluss, dass er von uns in diesen 10 Tagen das äusserste abverlangen müsse. Wir werden in Gruppen von 8 bis 10 Mann eingeteilt, Plus ein Gruppenleiter. Am Abend beim einrücken sind alle Sturm im Kopf ob all den vielen Zahlen und Buchstaben die wir lernen sollten. Nach dem Nachtessen müssen wir Gruppenweise unsere Zimmer beziehen. Ausgang gäbe es die ersten 3 Tage keinen, so hiess es beim Hauptverlesen. | |
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Die erste Nacht in Dachau | |
Langsam senkt sich die erste Nacht über Dachau, droben im 4. Stock der Kaserne waren wir nun, abgeschlossen von der übrigen Welt. Nun konnten wir uns, die einander fremd waren, keiner hatte den anderen je gesehen, kennen lernen. Der Mann, der mit einem Verband am linken Auge eingerückt war, in welchem man einen Kiesgrubenarbeiter zu sehen glaubte, entpuppte sich als ein tüchtiger Techniker. Wieder ein anderer, dick und untersetzt, wie ein Verdingbub aussehend, war Angestellter der Weltfirma BBC. Oder der grosse mit den grauen Haaren ist Flugzeugmechaniker. Der herzkranke, der seine Pritsche an der Tür hat und beim Treppensteigen zu verscheiden glaubte, ist ein viel gereister Mann. Viele Jahre war er als Monteur in Norwegen, Schweden und Finnland gewesen. |
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Eine ganz grosse Nummer ist der Bettnachbar. Wir alle übrigen 8 im Zimmer waren schon nach einer halben Stunde einig, dass er so ein verhasster Heftli oder Versicherungsreisender wäre, der dem Herrgott den Tag abstehle. Der Kerl hat ein geschliffenes Mundwerk, als hätte er zum Nachtessen Schmierseife gefressen. Ununterbrochen ist sein Mundwerk in Tätigkeit. Aber auch hier eine Verkennung der Dinge, denn er ist ein bekannter Komiker. | |
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Aber in der Nacht verwünsche ich den Kerl in die Hölle. Als müsste er für alle 120 Mann auf den morgigen Tag Kartoffeln gar kochen, so zieht und bläst er. Um 10 Uhr ist Lichterlöschen. Wir haben es wie die Kinder, man sagt uns wenn wir ins Bett müssen, das Licht müssen wir auch nicht selber löschen. Der Wachtmeister hält mit jedem ein kleines Gebet, allerlei schöne Namen und Zurechtweisungen. Auch sollen wir am Morgen geweckt werden, wie früher von der Mutter. Ich kann lange nicht einschlafen, hin und her wälze ich mich auf dem Bett. Muss an meine liebe Frau zuhause denken. Was macht Sie wohl? Alles mögliche und unmögliche geht mir da durch den Kopf. |
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Als ich dann endlich hinübersegle in das Land der Träume, beginnt der Nachbar zu schnarchen. So gegen 2 Uhr wird es mir dann doch zu bunt, probiere ihm die Nase zuzuhalten, mit dem Resultat, dass er glaubt seine Liebste sei bei ihm. Gegen Morgen falle ich dann doch noch in einen kurzen Halbschlummer. Auf, Tagwache! Waschen! Pressieren!" In 5 Minuten ist Frühturnen, 4 Stockwerke hinunter, 4 Stockwerke herauf und nochmals 4 Stockwerke hinab, das ist zuviel verlangt, gehässig und übellaunig beginnt der neue Tag. |
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Sonntags | |
Heute ist Sonntag, der vierte Tag in Dachau. Sonntag, was würde das heissen, wenn wir zuhause wären? Mal länger schlafen oder ein Frühbummel, je nach Laune. Ein gutes Mittagessen von lieben Händen zubereitet. All das ist für uns in weite Ferne gerückt. Dafür sollen wir heute den ganzen Tag büffeln. Ausgang gäbe es auch keinen. Die Stimmung, die schon gestern bedenklich tief stand, sinkt heute auf den Nullpunkt. Wie schon die letzten beiden Tage so auch heute: 30 Minuten militärischer Drill, 30 Minuten technischer Dienst. Vom Morgen bis zum Abend wiederholt sich der gleiche Tanz. Grüssen, Marschieren, Rechtsumkehrt und Linksumkehrt bis zur Bewusstlosigkeit. Bald dieser, bald jener tanzt aus den Reihen, was unsere jungen Instruktor jeweils in Wut bringt. Die beiden sind junge Flieger Offiziere von Dübendorf. Mit ihrem militärischen Schneit haben sie auch die berühmten Dübendorfer Kraftausdrücke mitgebracht. Da sollen wir im Tempo es gehetzten Affen über die Allmende sausen, dann wieder den "Ranzen" (Wanst) zurück, "Scheichen" (Füsse) zusammen. Ein andermal stehen wir wieder wie ein schwanger Weib da, auch sind wir "Latschi" (Faulenzer) und "dumme Cheiben" (Idioten). Heute Sonntag treiben sie es ganz bunt, nichts können wir recht machen. Mehr als die Hälfte unserer 120 Mannen sind Familienväter, haben bis dahin noch nie Dienst geleistet, vor wenigen Tagen noch im bürgerlichen Leben. Jeder konnte tun und lassen wie es ihm behagte, durfte eine eigene Meinung haben. Wir haben in den 4 Tagen in Dachau noch nicht gelernt unseren Verstand auszuschalten, haben nicht gelernt blindlings zu gehorchen. Im laufe des schönen Sonntagnachmittags, angesichts der vielen Spaziergänger die unserm Theater zuschauen, werden wir rebellisch. Zuerst vereinzelt, dann aber immer mehr widersprechen wir unseren Vorgesetzten. Eine Meuterei droht auszubrechen. Herr Major X überblickt die kritische Lage sofort, bläst die Übung ab und beordert uns in den Theoriesaal, wo er uns einen Vortrag über Dienstvergehen und seine Folgen hält. Nachher, oh Wunder, lässt er uns für einige Stunden gehen. |
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Was lernen wir eigentlich in Dachau? | |
Nur Wenige wissen, was für eine Organisation es braucht, um Fliegeralarm auslösen zu können. Da sind über das ganze Land so genannte Flieger-Beobachter-Posten verteilt. Diese Posten sind telefonisch mit einer Zentrale verbunden. Kommt da nun ein fremdes Flugzeug über die Grenze, wird es von den Flieger-Beobachter-Posten an die Zentrale gemeldet. Für die aussen stehenden ist eine solche Meldung unleserlich, er könnte mit den Zahlen und Buchstaben nichts anfangen. Eine solche Meldung geht folgendermassen zu: Da kommt in das vorgedruckte Formular zuerst die ganze Zeit, dann die Richtung in der das Flugzeug fliegt, anschliessend der Höhenwinkel, Flugrichtung und Distanz. Diese Daten werden an einem Gerät abgelesen. Nun wird der Standort des Flugzeuges bestimmt. Ist die Arbeit gemacht, werden Anzahl der gesichteten Flugzeuge, ob 1, 2 oder 4-motorig und Nationalität eingetragen. Anschliessend wird noch die Höhe in welcher das Flugzeug fliegt ausgerechnet. All diese Sachen sollten in 20 bis 30 Sekunden gemacht sein. Diese Meldung geht nun an die Zentrale weiter, wo dann Alarm befohlen wird. Wir stehen da wie Erstklässler, denen man in ein paar Tagen lesen und schreiben beibringen will. Am vierten Tage können wir weniger als am ersten. Alles kommt uns im Kopf durcheinander, selbst im Schlafe machen wir Fliegermeldungen. Ich glaube kaum, dass ich es je begreifen und lernen werde. Es wurmt mich aber höllisch, da ich doch von klein auf ein begeisterter Anhänger der Fliegerei bin, mir vor Jahren ein eigenes Segelflugzeug baute. Aber bei dieser Rechnerei und ableiern der abgelesenen Zahlen und Worten bin ich eine komplette Eichel. Habe noch den einen Trost, dass es nicht nur mir so geht, sondern auch vielen von meinen Leidensgenossen. Viel Schuld daran ist auch der Umstand, dass wir nebst dieser Büffelei, den militärischen Schliff auch noch lernen sollen. Für was die Rekrutenschulen wochenlang Zeit haben, soll uns in 10 Tagen eingepaukt werden. Eine gefährliche Stöpselperiode (Lernplateau) will von uns Beschlag nehmen. Ein Offizier, von Beruf Schullehrer, kann uns dann über die schwere Krankheit hinweg bringen. Alles nimmt einmal ein Ende und auch unser Aufenthalt in Dachau. |
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Abbildung: Bezeichnung und Standort des Beobachtungs-Postens, Formular, Posten 711 Fruthwilen, 12.11.1942 | |
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Wir werden vereidigt | |
Am letzten Tag, einen Freitag gegen Abend, sollten wir vereidigt werden. Früher als andere Tage hiess es einzurücken. Wir mussten noch unsere Koffer und Rucksäcke packen. Morgen werden wir auf die uns zugewiesenen Posten abreisen. Vorgängig der Vereidigung hält unser Gruppen Kommandant eine kurze Rede. Erwähnt, dass wir stolz sein dürften über unsere Leistung, wir hätten uns redlich Mühe gegeben. Wenn uns auch hin und wieder der Verleider gekommen sei, so hätten wir auf die Zähne gebissen und durchgehalten. Der Dienst sei streng und vielseitig, aber nötig gewesen, da wir zu äusserst an der Schweizer Grenze eingesetzt würden. Dann wird der Vereidigungstext verlesen. 120 Hände heben sich gegen den Abendhimmel, da und dort scheint die untergehende Sonne in feuchten Augen. Zur Feier des Tages erhalten wir Kaffee und Wähen (Blechkuchen), was aber für viele noch wichtiger ist, Ausgang bis halb 11 Uhr. |
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Die letzte Nacht in Dachau | |
Vergessen sind die letzten Tage. Da und dort hört man die Bemerkung, dass etwas laufen müsse, dass es Betrieb geben müsse. Gruppenweise verlassen die frisch gebackenen Soldaten die verhasste Kaserne, um den sauer verdienten Sold in Flüssigkeit umzusetzen. Irgendwo schlüpfen auch wir unter, bei angeregter durch Witze gewürzte Unterhaltung geht die Zeit nur all zu schnell dahin. Als aufgebrochen werden musste, waren einige ziemlich im Schuss. Die einen singend, die anderen grölend ziehen so gegen halb elf Uhr, ziemlich über den Durst getrunken und allerlei Dummheiten redend, zur Kaserne. Es geht lange bis Ruhe ist. Selbst der gestrenge Herr Wachtmeister hat keine grosse Macht mehr über die Herde. Er muss allerlei schmeichelhafte Namen einsacken. Erst das erscheinen des Herrn Majors bringt Ordnung in die Gesellschaft. Lange liege ich wach im Bett, muss an unsere Aufgabe denken, die wir zu erfüllen haben. Bedenken kriechen heimlich hoch, ob wir der Sache gewachsen wären? Auch habe ich Bedenken, ob wir 9 Männer uns 10 Wochen ertragen würden. 10 Wochen ist eine lange Zeit, jeder hat andere Ansichten, ist anders geartet, der eine hat Sorgen wegen zuhause, der andere wiederum befürchtet beruflich etwas zu verlieren. Über all diese Gedanken schlafe ich ein, begleitet vom schnarchen meines Nachbarn. |
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Der Auszug aus Dachau, der neuen Heimat entgegen | |
Ein strahlender Oktobertag bricht an, so richtig zum reisen einladend. Gruppenweise stehen wir am Bahnhof von Dachau, das viel von seiner Schwere für uns verloren hat. Donnernd braust unser Schnellzug heran. Bitte einsteigen. Türen zuknallend setzt sich der Zug in Bewegung. Ein letztes Winken denjenigen, die den Gegenzug nach Westen besteigen. Nach kurzer Fahrt müssen wir umsteigen, pustend und stampfend geht es über den Seerücken dem schwäbischen Meer entgegen. Hier am Bodensee soll nun für 10 Wochen unsere neue Heimat sein. Nochmals müssen wir umsteigen. Den Aufenthalt benützen wir, um noch schnell durch den Stacheldrahtzaun in die Strassen von Konstanz zu sehen. Um 11 Uhr müssen wir weiter fahren, nach wenigen Stationen sind wir am Ziel, noch müssen wir aber etwa drei Viertel Stunden bergauf gehen. Um die Mittagszeit treffen wir schwitzend und hungrig auf unserem Posten ein. Nach dem guten Mittagessen ging es sofort an die Arbeit, denn wir müssen die neue Gegend kennen lernen. Auch Fliegermeldungen müssen wieder geübt sein, denn man weiss nicht, ob uns schon heute fremde Flieger zu schaffen machen werden. "Am Bodensee sei immer etwas los", so hiess es vor unserer Abreise in Dachau. Und wirklich, wir sind noch keine 2 Stunden auf dem Posten, sichtet man drüben im gelobten Land einige Hakenkreuz-Flugzeuge. Die Meldungen gehen überraschend gut, hier haben wir den Feind vor uns, müssen nicht irgend etwas fiktives annehmen. Etwas ruhiger sehe ich in die Zukunft. Die Sache ist nicht so kompliziert, wie es uns geschienen hat. Zum Glück kenne ich die Gegend sehr gut, denn oft bin ich mit dem Fahrrad um den Bodensee geradelt, bin oft drüben in Friedrichshafen gewesen, als der gute Zeppelin noch seine Schweizerfahrten machte. Damals hatte ich noch Hochachtung vor dem deutschen Können. Seit aber alles durch die Nazis verseucht ist, alles grosse Können für ihre dunklen und grössenwahnsinnigen Machenschaften verwendet wird, hat sich die Hochachtung in Abscheu verwandelt. |
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Brief an den Freund | |
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Lieber Freund | |
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Besten Dank für Deinen Brief. Du machst mir aber die Beantwortung desselben schwer. Du fragst so viele Dinge, dass ich tagelang an der Antwort herum studieren muss. Nicht dass ich keine Zeit dazu hätte, die habe ich reichlich, aber unser altes Schulübel, lieber Heinrich, schreibfaul. Wie unser guter Lehrer sagte: Stinkfaul. Ich muss in letzter Zeit oft an unsere Schul- und Unterweisungszeit zurück denken, an unsere gemeinsamen Gaunerstücklein. Wenn ich des Nachts auf der Wache bin, so kommen mir die durchbummelten Nächte von früher in den Sinn. Als wir 15 bis 17-jährigen nachts mit Gewehr und Revolver bewaffnet ausrückten. Oder wenn wir im Dorf alle erreichbaren Aborttüren (Toilettentüren) aushängten und sie irgendwo auf einen Haufen warfen. Nach der Konfirmation haben sich unsere Wege getrennt, Du lieber Freund, bist durch schlechte Gesellschaft ins Trinken geraten, bis Du 21 Jährig als Rauf und Trunkenbold dem Säuferwahnsinn nahe im Spital zur Besinnung kamst. Ich war in dieser Zeit von der Fliegerei berauscht. Bin unter die Segelflieger gegangen, habe Flugmodelle und Hängegleiter gebaut. Heute sind wir beide wieder dicke Freunde, aber auf anderer Grundlage als früher. Um Dir behilflich zu sein, bin ich mit Dir ins Blaukreuz gekommen, wo wir beide liebe Frauen kennen lernten und heute sind wir glückliche Familienväter. Du wie ich, tun heute als H.D. Soldaten Dienst. Du beim Luftschutz, ich beim Flieger-Beobachter- und Meldedienst (Fl.B.M.D.). Beide Sachen gehören ja zusammen und ich kann Dir schon einiges verraten von unseren Geheimnissen. Du wirst ja keinen Gebrauch davon machen. Also, wir sind auf dem Seerücken, in der Nähe von Konstanz am schönen Bodensee. Unser Beobachtungsposten ist auf dem Dache eines Gasthofes installiert. Die Aussicht ist einzigartig. Nur 3km vor uns liegt die schöne Insel Reichenau. Drüben, über dem Untersee, haben wir das Schloss Hegne, jetzt in ein Verwundetenspital umgewandelt. Gerüchte besagen, dass überlebende vom Winterfeldzug in Russland dort untergebracht seien. Etwas weiter oben ist, mit seinen Kuppeln und Türmen, Konstanz. Westlich davor liegt der Flugplatz, wo ab und zu Verwundeten-Flugzeuge landen. Weiter hinten, in der gleichen Richtung wie Konstanz, wie ein Felsennest, das schöne Städtchen Meersburg. Weiter hinten, nicht sichtbar, muss Markdorf sein, wo unsere Schulkollegin Elsa mit einem deutschen Lehrer verheiratet ist. Bei schönem Wetter sehen wir auch das historische Städtchen Friedrichshafen mit seinen grossen Zeppelinhallen. Sogar den Heiligenberg mit seinen drei Linden können wir von hier aus gut sehen. Das Wetter ist einzigartig, jeden Tag schöner Sonnenschein. Wir können hemdärmlig auf der Veranda unser feudales Essen einnehmen. Uneingeweihte könnten glauben, wir wären Feriengäste. Am Morgen haben wir 2 Stunden technischen Dienst. Die erste Woche gilt es am Nachmittag Flugzeugtypen zu zeichnen, jetzt aber ist für die dienstfreie Mannschaft der Mittag frei. Da liegen wir bei schönem Wetter, rauchend und politisierend, auf dem Dache und lassen uns von der Herbstsonne bescheinen. Ich habe Dir oben vom guten Essen geschrieben. Es ist schon so, wir leben wie die Fürsten. Unsere gute Wirtsfrau gibt sich alle Mühe uns zu mästen. Am Morgen Brot mit Butter und Konfitüre, zum Mittagessen Fleisch und Gemüse und am Abend wieder Fleisch oder sonst was gutes. Wir haben aber auch einen Bärenhunger, die Seeluft tut uns gut. Das ganze Sein und Trachten ist auch immer Essen und Schlafen. Unsere nächtliche Unterkunft haben wir im oberen Stock des Gasthofes, wir schlafen in rechten Betten. Um zu unseren Beobachtungsposten zu gelangen müssen wir nur wenige Treppen aufsteigen und schon befindet man sich auf dem Dache mit wunderbarer Rundsicht. Letzthin ist ein Kamerad zur Belustigung nur im Nachthemd auf der Wache erschienen. Trumpf ist, dass viele von uns statt Marschschuhe auf die Wache Finken anziehen. In den 3 Wochen die wir hier sind, war nur einmal ein Offizier bei uns, sonst sind wir ganz auf uns selbst angewiesen. Du kannst dir denken, was alles so getrieben wird. Hin und wieder machen wir einen Ausmarsch, besuchen die bekannten Schlösser am Untersee wo grosse Kostbarkeiten zu sehen sind. Ein andermal gibt es Schnitzeljagd. Der dicke Fuchs ist aber immer im Hinterstübchen des Hirschen zu Mannenbach zu suchen. Dieses Hinterstübchen hat für uns eine grosse Anziehungskraft, viele Teller mit Nussgipfeln und manche Wähen. Wir sind den Weg des alles essbaren gegangen. Am buntesten geht es Nachts zu, wir sollten doch wie alle Schweizersoldaten um 10 Uhr in die Federn. Bei uns ist aber erst so zwischen 11 und 12 Uhr Lichterlöschen. Die einen trinken eins über den Durst, andere wieder haben ein Rennen mit einer Dorfschönheit. All dies lässt mich kalt, am Abend lese ich oder mache meine Notizen. Du möchtest auch gerne wissen, was wir eigentlich für militärische Aufgaben hätten. Nach all dem Erzählen hast du vielleicht den Eindruck erhalten, wir seien wirklich nur zur Erholung hier oben. Du als Luftschützer wirst aber wissen, dass Ihr von irgendwoher den Befehl erhaltet, Fliegeralarm auszulösen. Wir haben die Aufgabe den Luftraum zu überwachen und jedes Flugzeug das wir sichten, an eine Zentrale zu melden. Sobald ein Flugzeug die Schweizergrenze überfliegt, so ist eine Grenzverletzung da, was sofort Fliegeralarm bedeutet. Auf einem solchen Beobachtungsposten sind Tagsüber 3, des Nachts 2 Mann auf Wache. Einer ist draussen und sucht mit dem Fernrohr den Himmel ab, der Zweite und Dritte halten sich am Telefon in der kleinen Schutzhütte auf. Hier am Bodensee ist immer etwas zu sehen. Bald ganz in der Nähe, dann wieder weiter landeinwärts donnern die deutschen Maschinen vorbei. Wenn es der Wachthabenden Mannschaft langweilig wird, so rufen sie mich, denn es wird mir nachgesagt, ich könne Flugzeuge herbei zaubern. Zaubern kann ich nicht, dafür habe ich gute Augen und Ohren und kann Flugzeuge auf 40 bis 50km Distanz ausfindig machen. Wenn drüben im gelobten Land Betrieb ist, arbeiten wir angestrengt. Wir haben Tage mit 60 bis 80 Meldungen, einmal gaben wir sogar 120 Meldungen weiter. Ab und zu kommen wir auch einen britischen Aufklärer zu sehen, der das Bodenseegebiet auskundschaftet. Nachts haben wir bist jetzt noch nichts zu tun bekommen. Jede dritte Nacht haben wir keinen Dienst, wenn aber irgendwo ein Flugzeug in die Schweiz einfliegt, so haben wir aufzustehen und Wache zu halten. In letzter Zeit kommen wir regelmässig um diese freie Nacht, die Engländer fliegen alle Nacht nach Italien und verletzen im Jura hinten unser Land. Auch geben sie uns von der Zentrale nachts Aufgaben auf, die in möglichst kurzer Zeit gelöst sein müssen. Diese Aufgaben sind uns verhasst. Manchmal weichen wir der Sache mit der Begründung aus, wir hätten keine Zeit, müssten aufpassen, den drüben machen sich Motorengeräusche bemerkbar. Immer hat man eine Ausrede zur Hand, wie früher in der Schule wenn wird die Aufgaben nicht gemacht hatten, wenn wir lieber in einem Tobel Nielen (Liane) rauchten und mit dem Flobert (Gewehr) auf Spatzen schossen. Nun glaube ich, Dir lieber Heinrich, so alles wissenswerte geschrieben zu haben. Es war ein schwerer Knorz. Wenn ich wieder zuhause bin, können wir bei einem nächtlichen Bummel auf dem Irchel (Hügelzug) noch weiter über diese Sache reden, vielleicht erleben wir bis dann noch einiges. Einen schönen Gruss an Deine liebe Frau und Kind. |
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Auf Wiedersehen | |
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Dein Freund | |
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Arthur | |
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Abbildung: Gruppenfoto der Fliegerbeobachter in der Nähe des Beobachtungsposten. | |
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Wir politisieren | |
Die letzten Tage war das Wetter unfreundlich, am schönsten um drinnen zu bleiben. Vom Morgen bis zum Abend wird gejasst (Kartenspiel), die Herrschaften müssen noch zum Mittagessen geholt werden. Heute lacht nun wieder die liebe Sonne übe dem Bodenseegebiet. Alle Mannen sitzen oder liegen auf dem Dache, bald in eine hitzige Debatte verwickelt. Ich weiss nicht mehr so recht wie es begann. Aber als einer die Bemerkung fallen liess, die Verfolgung geschehe den Juden zum Teil recht, ist Feuer im Dache. Nun ist kein halten mehr und um ein Haar fliegt der Kerl über das Geländer. Alle fallen über das Dritte Reich und seine Regierung her. Zwischen guten und treffenden Argumenten wird auch viel Unsinn und Unmöglichkeiten verzapft. Darin sind sich alle einig: Nazi-Deutschland ist der Weltuntergang. Sollten die da drüben an die Macht gelangen, hätten wir nichts mehr zu lachen. Alle glauben aber auch, dass früher oder später das ganze auf Lug und Trug aufgebaute Gebäude zusammen stürzen werde. Die Geschichte fing ja mit dem Reichstagsbrand an, den die Kommunisten gelegt haben sollten, in Tat und Wahrheit von Göring und seinen Getreuen heimlich entfacht wurde. Es ist zum krummlachen, was wir da droben auf dem Dache für die Nazibonzen und Trabanten alles für Strafen aushecken. Da wollen die einen die ganze Sippschaft gehängt haben, andere sehen die Scheusale im zoologischen Garten unter die wilden Tiere verfüttert, andere wieder wollen Hitler und seine Getreuen in einem Käfig sehen, der ganzen Welt zum anspeien preisgeben. Ein anderer macht den Vorschlag, die Banditen sollten bei Wasser und Brot hart arbeiten müssen, oder ein weiterer glaubt man sollte die Halunken alle Tage einen Zentimeter kürzer machen. Ein ganz Schlauer will den Herren von der Bendlerstraße alle Tage eine lange Nadel ins Fleisch stecken, bis sie den Geist aufgeben würden. Wir kommen uns als Richter über diese tief gesunkenen Menschen vor, merken aber lange nicht, dass wir mit unseren Strafen genau dasselbe zu tun gedenken, was heute da drüben in den Konzentrationslagen gemacht wird. Erst als keiner mehr neue Strafen auszuhecken im Stande ist, kommt das politisieren wieder in geordnete Bahnen. Wir müssen eingestehen, dass auch bei uns das gleiche geschehen würde, wenn gewisse Leute die Macht zum Regieren in die Hände bekämen. Über all dem Reden vergessen wir die fällige Wettermeldung durchzugeben. |
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Abbildung: Posten 711 Fruthwilen / Restaurant "Bellevue" | |
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Die erste große Sache | |
Kaum sind wir an diesem Samstag im Bett, kommt einer von der Wache herunter, meldet dass Flugzeuge den Jura überflogen hätten mit Flugrichtung Bodensee. In wenigen Augenblicken sind alle 9 Mann, die Kleider unter dem Arm, auf dem Dache. Im Dunkel der Nacht ist ein arges Durcheinander, der eine zieht den Pullover verkehrt an, ein anderer wird mit seinen Schuhen nicht fertig. Wenige Minuten später heulen bei uns die Sirenen, etwas später beginnt das Konzert auch drüben. Singen, Radolfzell und Konstanz geben nacheinander Alarm, selbst die deutschen Bodensee-Dampfer geben Alarmzeichen. Es ist eine ruhige, sternenklare Nacht. Kurz vor 23 Uhr vernehmen wir das zuerst schwache Brummen, schnell kommen die fremden Flieger näher. Unser Postmann beginnt zu arbeiten, Meldung um Meldung geht an die Zentrale. Da, als das erste Flugzeug über unserem Posten ist, wird es taghell. Von unsichtbarer Hand ausgelöst steht über der Insel Reichenau eine grosse Leuchtkugel. Mit dem Fernrohr können wir feststellen, dass die Kugel an einem Fallschirm hängend langsam gegen die Erde gleitet. Zuerst glauben wir, die Flieger würden Konstanz angreifen, bald wurde uns aber gewiss, dass die Insel Reichenau als Wendepunkt diente. Jedes nachfolgende Geschwader lässt über der Insel eine solche Leuchtkugel fallen. Von hier aus ging die Reise der Flieger genau nach Norden. Schnell sehen wir auf der Karte nach, was in dieser Richtung Wichtiges wäre, kommen auf Stuttgart, was auch in dieser Nacht bombardiert wurde. Bei uns auf dem Posten geht es laut zu und her. Jeder will etwas anderes gesehen haben. Die arbeitende Mannschaft wird abgelenkt. Schweissbedeckt kommt der Telefonist aus seiner Hütte. Wenn wir unsere Mäuler nicht halten würden, so laufe er davon, er könne kein Wort verstehen was ihm der Beobachter mitteile. Er ist etwas nervös geworden, es wäre uns Zuschauern an seiner Stelle nicht besser gegangen. Einmal geht bei einer dieser Leuchtkugeln der Fallschirm nicht auf. Mit ungeheurem Zischen und Pfeifen saust das Ding auf die Erde nieder und brennt in einem kleinen Gehölz aus. Der ganze Spuck dauert eine halbe Stunde, dann verzieht sich das Gebrumm langsam gegen Norden, begleitet vom fernen Dröhnen der Abwehrgeschütze. Etwas später kann man im Norden das Aufblitzen der Einschläge sehen, der Himmel färbt sich langsam rot. Lange nach Endalarm stehen wir noch draussen, beeindruckt vom gesehenen, mögen es denen da drüben auf den Kragen gönnen, bedenken nicht, dass viele Unschuldige ebenfalls ihr Leben lassen müssen, oder ihr ganzes Hab und Gut verlieren. Tagelang hatten wir Gesprächsstoff, nahmen uns dies und das für derartige Sachen vor, was vermieden werden und was besser gemacht werden könnte. |
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Kriegsbericht weiter lesen | |
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... interessante Kriegsdokumente zum anschauen und lesen | |
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Tagebuch als PDF | |
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